Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz: ein andauerndes Problem
Eine Definition von sexueller Belästigung und Sexismus
Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz beinhaltet jegliches Verhalten mit sexuellem Bezug oder auf Grund der Geschlechtszugehörigkeit, das von einer Seite unerwünscht ist und das eine Person in ihrer Würde verletzt. Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz kann sich z. B. in Form von anzüglichen und zweideutigen Bemerkungen über das Äussere von Arbeitnehmer*innen, sexistischen Bemerkungen oder Witze über sexuelle Merkmale, sexuelles Verhalten und die sexuelle Orientierung von Menschen, unerwünschtem Körperkontakt, anzüglichen Blicken oder Gesten usw. äußern.
Einige Zahlen zur sexuellen Belästigung
Wenn man sich die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik ansieht, stellt sich heraus, dass im Jahr 2020 nicht weniger als 1435 Fälle von sexueller Belästigung (Straftaten) und 1477 geschädigte Personen registriert wurden. In 9 von 10 Fällen war die geschädigte Person weiblich und die Altersgruppe der 18- bis 29-Jährigen wies das höchste Risiko auf. Bei 30 % der Opfer blieb die Straftat unaufgeklärt. Auf beruflicher Ebene stellte sich heraus, dass nur in etwa 5 % die beschuldigte Person aus einer beruflichen Beziehung stammte.
Außerdem waren über 95 % der Beschuldigten männlich, wobei die Altersgruppe der 18- bis 39-Jährigen stark vertreten war, das heisst «90 % der Geschädigten sind weiblich, 95 % der Beschuldigten sind männlich». Darüber hinaus zeigen Umfragen in der Bevölkerung, dass die gemeldete Anzeigequote bei sexueller Belästigung nicht einmal 10 % beträgt.[6]
Folglich stellen die Zahlen der Kriminalpolizei nur die Spitze des Eisbergs dar, denn wie die Journalistin Patrizia Laeri berichtet, sprechen die meisten Opfer nicht sofort darüber oder schweigen schlichtweg. Man könnte sich fragen, warum Opfer von sexueller Belästigung und auch Vergewaltigungsopfer sich in den meisten Fällen für das Verschweigen der Tat entscheiden.
Warum schweigen Sie?
Im Oktober 2020 beschäftigte sich die Zeitung Le Temps mit dieser Frage und führte in ihrem Artikel einige Erklärungen an, die eine Antwort auf diese Frage ermöglichen könnten. Diese Gründe können wie folgt zusammengefasst werden :[7]
- Die Angst, dass einem nicht geglaubt wird, da die Fakten in der Regel schwer zu beweisen sind.
- Die Motivation der Opfer wird angezweifelt (Wahrhaftigkeit der Tatsachen, Übertreibung der Tatsachen, Rachegelüste, usw.).
- Die Verantwortung oder vielmehr die Schuldgefühle des Opfers, das sich fragt, ob er oder sie in irgendeiner Weise zu diesem Verhalten angestiftet hat.
- Die Angst vor Vergeltung, sei es durch den*die Stalker*in selbst oder sogar durch andere Arbeitnehmer*innen des Unternehmens.
Es kann auch die Befürchtung hinzukommen, dass eine Anzeige/Meldung nicht zum erwarteten Ergebnis führt, d. h. dass sich nichts ändert und die Dinge weitergehen oder dass sich die Situation sogar noch verschlimmert. Aus der oben genannten Studie geht nämlich hervor, dass «gemäss den Expertinnen und Experten selten rechtliche Schritte ergriffen [werden] und oft erst dann, wenn die sexuelle Belästigung zu viel werde und ein klares Stoppsignal ausgesendet werden soll oder die Betroffenen bereits krankgeschrieben seien oder gekündigt hätten».
Es ist ein bedauerlicher Gedanke, dass der*die Arbeitgeber*in erst dann handeln wird, wenn die Opfer bereits krankgeschrieben oder außerhalb des Unternehmens sind. Allein die Tatsache, dass ein solches Verhalten innerhalb des Unternehmens vorkommt, ist ein Beweis dafür, dass die Präventions-/Sensibilisierungsphase zu diesem Thema gescheitert ist oder im Unternehmen gar nicht existiert.
Reden oder Schweigen ist keine leichte Entscheidung
Die Entscheidung, etwas zu melden, ist keine leichte Sache. Es liegt in der Verantwortung der Arbeitgeber*in, nicht nur interne Vorschriften zu erlassen, die derartiges Verhalten strikt verurteilen, sondern auch dafür zu sorgen, dass ihre Arbeitnehmer*innen für diese Themen sensibilisiert werden. Für den Fall, dass die Präventionsphase die sexuelle Belästigung oder den Sexismus nicht verhindert hat, müssen im Unternehmen Kommunikationskanäle vorhanden sein, über die die Opfer oder Zeug*innen die Vorfälle melden können.
Nachdem eine solche Meldung eingegangen ist, liegt es in der Verantwortung des*der Arbeitgeber*in, den Fall nicht zu ignorieren oder gar leichtfertig zu behandeln, wie es leider manchmal der Fall ist. Leichtfertigkeit oder Untätigkeit gegenüber Opfern, die den Mut aufbringen, den Sachverhalt zu schildern, führen zu einem feindseligen Arbeitsklima und manchmal zur Kündigung des Opfers oder zu einer längeren Abwesenheit. Aus diesem Grund muss das Verfahren, das nach Eingang einer Meldung innerhalb des Unternehmens zu befolgen ist, klar festgelegt, befolgt und kontrolliert werden.
Niemand sollte aufgrund seines Geschlechts diskriminiert werden oder Opfer eines Fehlverhaltens werden, das seine Ehre und Persönlichkeit verletzt. Der Arbeitsplatz sollte nicht zum Nährboden für illegale Handlungen oder Verhaltensweisen werden.
[1] Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht), Artikel 328.
[2] Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel, Artikel 6
[3] Bundesgesetz über die Gleichstellung von Frau und Mann, Artikeln 4, 5 und 10
[4] Risiko und Verbreitung sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Status am: 08.02.2’23
[5] Patrizia Laeri erhebt schwere Vorwürfe gegen SRF-Mitarbeiter. Status am: 07.02.2023
[6] Sexuelle Belästigung in der Schweiz: Ausmass und Entwicklung Bericht des Bundesrates in Erfüllung des Postulates 18.4048 Reynard Mathias vom 28. September 2018. Status am : 07.02.2023.
[7] Harcèlement sexuel au travail: de quoi parle-t-on?. Status am: 07.02.2023