Von Schock, Solidarität und Herausforderungen
Von einem E-Mail zu einem tragfähigen Unterbringungsmodell für tausende Geflüchtete in wenigen Wochen: Das Gastfamilienprojekt von Campax und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zugunsten von Schutzsuchenden aus der Ukraine ist ein riesiger Erfolg und zeigt, wozu Bürger*innenbewegungen fähig sind.
Wo warst Du, als Du vom Ausbruch des Ukraine-Kriegs erfahren hast? Die meisten werden sich erinnern. Der Schock und die Betroffenheit waren gross. Gebannt haben wir in die Ukraine geschaut, Nachrichten konsumiert, Hintergrundberichte gelesen. Ein Ereignis diesen Ausmasses macht hilflos. Es kann aber auch zu Aktivismus und grosser Solidarität führen.
Für Campax war klar: Wir tun was! Kriege lösen Fluchtbewegungen aus. Menschen verlassen Hals über Kopf ihre Heimat und müssen irgendwo unterkommen. Die offiziellen Unterkünfte würden wohl nicht ausreichen, das zeigt die Erfahrung. Warum die Schutzsuchenden nicht privat, also in Gastfamilien unterbringen? Ein Versuch ist’s wert.
Aller Anfang ist herausfordernd …
Auf den ersten Aufruf am 28. Februar haben wir Unterbringungsmöglichkeiten für über 17’000 Geflüchtete von mehr als 7’000 Haushalten erhalten. Alle diese Daten mussten verwaltet werden. Deshalb hat ein Team aus Entwickler*innen bereits in der ersten Woche nach Kriegsausbruch damit begonnen, eine Softwarelösung auf die Beine zu stellen. Zeitgleich haben Gespräche mit der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH und dem Staatssekretariat für Migration SEM stattgefunden. Bald war klar, dass das Projekt in enger Zusammenarbeit mit diesen Stakeholdern durchgeführt wird: Campax ist geübt darin, schnell und entschlossen zu agieren, das SEM trägt die Verantwortung und SFH hat Erfahrung und Expertise im Asylwesen allgemein und speziell in der Unterbringung von Schutzsuchenden in Gastfamilien.
Die ersten Tage nach dem Aufruf waren verrückt. Unser Büro glich einem Bienenhaus. Das Telefon hat pausenlos geklingelt, Mails kamen im Sekundentakt, wir wurden regelrecht mit Angeboten überschüttet: Freie Zimmer, ganze Wohnungen, freiwillige Mitarbeit, Sach- und Geldspenden. Die Solidarität in der Bevölkerung mit den geflüchteten Menschen und die Betroffenheit über den russischen Angriff auf die Ukraine waren überwältigend.
… aber unser Netz trägt
Parallel zum Krisenmanagement haben wir angefangen, eine Routine aufzubauen. Mitarbeitende von Campax waren in den Bundesaufnahmezentren anwesend, um die dort tätigen Hilfswerke in die neue Software einzuführen. Bald konnten die ersten Geflüchteten in Gastfamilien platziert werden, zuerst im Kanton Zürich, bald in alle anderen Kantone. Als Ende April die Verantwortung vom Bund zu den Kantonen überging, wurden Absprachen mit den zuständigen Behörden getroffen, die Unterbringung in Gastfamilien wurde damit fast schon zu einem Daily Business.
Dank der tatkräftigen Unterstützung von zahlreichen Freiwilligen und der Mitarbeit eines Call Centers konnten wir die telefonischen und schriftlichen Anfragen innert nützlicher Frist bewältigen. Der Fokus verlegte sich nach und nach auf den Wechsel von Krisenbewältigung zu einem funktionierenden laufenden Betrieb. Die Software wurde ausgeklügelter, die Zuständigkeiten klarer, die Arbeitslast nahm nach und nach ab. Das Team wurde entlastet, die Campaigner*innen hatten wieder freie Kapazitäten für ihre eigentlichen Aufgaben. Damit stellte sich auch mehr und mehr die Frage: Wohin soll es gehen?
All Refugees Welcome
Für Campax war und ist klar: Das schweizerische Asylwesen muss reformiert werden. Wir wünschen uns für alle Geflüchteten, egal aus welchen Herkunftsländern, die gleiche Anteilnahme und den gleichen Support, den die Menschen aus der Ukraine erfahren haben. All Refugees Welcome! Wir haben in den letzten Monaten eine klare Bevorzugung einer einzelnen Gruppe von Schutzsuchenden gesehen. Wir begrüssen die unbürokratische Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine und die Aktivierung des Status S, fordern aber für Schutzsuchende mit Status F oder N dieselbe Behandlung. Es ist nicht vertretbar, dass abgewiesene Asylsuchende teilweise jahrelang unter menschenunwürdigen Bedingungen und ohne jegliche Perspektive in unserem Land ausharren.[1] Es darf nicht sein, dass Geflüchtete in unsichere Drittstaaten abgeschoben werden.[2] Traumatisierte und psychisch kranke Menschen verdienen Zuwendung und Behandlung, dies ist in den bestehenden Strukturen nicht gegeben.[3] Aufnahme- und Durchgangszentren liegen oft abgelegen, den dort untergebrachten Menschen wird eine Teilnahme am Leben praktisch verunmöglicht. Gerade Familien mit Kindern brauchen stabile Verhältnisse und alle Menschen verdienen einen Ort, an dem sie sich zurückziehen, an dem sie sich geborgen fühlen können.
Die letzten Jahre zeigen: Eine Abnahme von vertriebenen Menschen ist nicht zu erwarten. Die Klimakatastrophe verursacht bereits heute eine riesige Anzahl von Vertriebenen, diverse Kriege und sonstige gewalttätige Auseinandersetzungen zwingen Millionen von Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und Schutz in anderen Regionen zu suchen. Die europäischen Länder und damit gerade auch die Schweiz mit ihrer funktionierenden Infrastruktur und der hohen Sicherheit sind in der Pflicht, Geflüchtete nicht nur aufzunehmen, sondern sie zu integrieren und ihnen eine Zukunft zu bieten.
Was bleibt? Viel!
Und damit kommen wir zurück zum Gastfamilienprojekt: Unzählige Rückmeldungen lassen darauf schliessen, dass dieses Modell der Unterbringung die Integration fördert. Geflüchtete in Gastfamilien haben sofort Anschluss an die ansässige Bevölkerung, sie lernen die Sprache, werden vertraut gemacht mit unserem System, haben Zugang zu Vereinen, zur Nachbarschaft. Gastfamilien können bei Behördengängen unterstützen, den öffentlichen Nahverkehr erklären, bei Hausaufgaben helfen, Zugang zu freien Wohnungen ermöglichen, einen Krippenplatz organisieren oder sogar einen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen oder vermitteln.
Das alles ist arbeitsintensiv. Die finanzielle Unterstützung für Gastfamilien ist – wenn sie überhaupt vorhanden ist – gering. Eine Betreuung der Gastfamilien und ihrer Gäste ist nicht in allen Kantonen gewährleistet und das, obwohl die Unterbringung in einer Gastfamilie vergleichsweise günstig ist und die bestehenden Strukturen entlastet. Trotz dieser nicht ganz einfachen Ausgangssituation waren und sind die Rückmeldungen der Gastfamilien in der Mehrheit positiv. Immer wieder hören wir, dass sie die Zeit mit ihren Gästen als Bereicherung erfahren haben, dass sie Freundschaften geknüpft und einen differenzierteren Blick auf das schweizerische Asylwesen erhalten haben. Die meisten würden es wieder tun und sind dankbar für die Zeit, die sie mit ihren Gästen verbringen durften.
Ab dem 1. Januar 2023 geht die Verantwortung des Projekts vollends zur Schweizerischen Flüchtlingshilfe. Das Gastfamilienprojekt wird weitergeführt. Das freut uns sehr, zeigt es doch, dass innert kürzester Zeit fast aus dem Nichts mit der Unterstützung von kompetenten Organisationen und starken Partner*innen unbürokratisch eine Struktur geschaffen werden kann, die funktioniert und trägt. Die fast über Nacht getroffene Entscheidung von Campax, SEM und SFH in dieser Sache zusammenzuarbeiten, hat sich ausgezahlt. Wir wünschen uns, dass dieses Modell erhalten bleibt und in Bälde auch für Geflüchtete aus anderen Herkunftsländern zugänglich gemacht wird; und dass wir in der Schweiz endlich erkennen, dass unser rückkehrorientiertes Asylwesen keine Zukunft haben kann, sondern im Gegenteil Neuankömmlinge unsere Gesellschaft bereichern und stärker machen für die Herausforderungen der nächsten Jahre und Jahrzehnte.
[1] Informationen zur sogenannten Nothilfe:
- Kommentar im Tagesanzeiger: “Wo Menschen “entsorgt” werden”
- Bündnis Wo Unrecht zu Recht wird…
- Blog der Aktionsgruppe Nothilfe Bern
- AI Schweiz: Nothilferegime: Lebensumstände, die krank machen
[2] Informationen zur schweizerischen Ausschaffungspraxis:
- aufgenauf-Bulletin Nr. 111, August 2022
- daslamm.ch: Kein Plan für Afghanistan: Auch die Schweiz schickt Menschen zurück in den Bürgerkrieg
- Tagesanzeiger: Ärzte ohne nötige Qualifikation begleiten Ausschaffungsflüge
- watson.ch: Verfahren abgebrochen: Umstrittene Firma begleitet Ausschaffungsflüge weiter
- Kommentar im Tagesanzeiger: Eritrea ist ein Unrechtsstaat – Trotzdem sucht die Schweiz die Kooperation
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