Mann und Frau im Angesicht von Whistleblowing
Ist das Geschlecht eine wichtige Variable bei der Meldung von Unregelmässigkeiten?
Sind Frauen eher bereit, Unregelmässigkeiten zu melden als Männer? Diese Frage ist nicht bedeutungslos und war in den letzten Jahren Gegenstand verschiedener Untersuchungen und Publikationen. Spielt das Geschlecht eine Rolle bei der Entscheidung einer Person, einen Hinweis zu geben? In diesem Artikel wird versucht, sich mit den Forschungsergebnissen zu diesem Thema und den Zahlen zu beschäftigen, die objektiv eine realitätsnahe Antwort ermöglichen.
Natürlich ist es nicht nur eine Frage des Geschlechts, ob jemand eine Meldung macht, sondern es gibt noch viele andere Variablen, die von der Person, die eine Meldung macht, berücksichtigt werden müssen. Zu diesen Variablen gehören der Tätigkeitsbereich, die Art des Missstands, die Risiken, die mit einer Meldung verbunden sind, die für den Missstand verantwortlichen Personen und die möglichen Opfer.
Die Ergebnisse einiger Studien, die zwischen 2014 und 2022 durchgeführt wurden.
Ob ein Whistleblower ein Mann oder eine Frau ist, spielt tatsächlich eine Rolle und ist ein Faktor, der zu den oben genannte Variablen dazugezählt werden muss. Dies geht aus der Untersuchung von Pattie Sellers[1] aus dem Jahr 2014 hervor, einer erfolgreichen amerikanischen Autorin. In dieser Studie stellte sie drei Gründe vor, die ihrer Meinung nach dafür verantwortlich sind, dass Frauen mehr Hinweise machen als Männer.
Die Autorin betont zunächst die Sensibilität von Frauen gegenüber Geschäftsrisiken, indem sie erklärt, dass Frauen nicht so leicht Geschäftsrisiken eingehen und daher wenig Toleranz gegenüber der Unregelmässigkeit von Unternehmen und den ethischen Grauzonen zeigen würden, die diese annehmen können. Darüber hinaus führt Sellers den Mutterinstinkt von Frauen an, der sie dazu motiviert, sich für Personen in einer schwachen Position einzusetzen, wie z. B. misshandelte Angestellte, betrogene Aktionär*innen oder Kund*innen. Die letzte Erklärung ist, dass Frauen nicht die Mentalität einer Geheimhaltungskultur hätten, wie sie von einer Gruppe von Führungskräften, die über mehrere Jahre hinweg ausschließlich von Männern gebildet wurde, etabliert wurde.[2]
Die Studie von Sellers kann jedoch nicht den Schluss zulassen, dass Frauen häufiger Unregelmäßigkeiten melden als Männer. Andere Studien, die später durchgeführt wurden, kamen eher zu nicht eindeutigen Antworten, was darauf zurückzuführen ist, dass es verschiedene Gründe gibt, die eine Person dazu veranlassen, eine Meldung zu machen.
Einige Arbeiten deuteten darauf hin, dass auf interner Ebene mehr Frauen melden und dass umgekehrt, wenn eine externe Ankündigung erfolgte, diese mehrheitlich von Männern kam. Andere Studien haben diesem Befund widersprochen. Einige Untersuchungen deuten nämlich darauf hin, dass Frauen eher als Männer externe Meldekanäle nutzen, wenn diese auf einen wichtigen Kontakt wie z. B. die Polizei verweisen.[3]
In anderen Studien wurde insgesamt festgestellt, dass Frauen aufgrund anderer Faktoren zur Meldung motiviert sind als Männer und dass sie sich bei bestimmten Arten der Meldung besonders stark engagieren. Sie würden eher auf der Grundlage ihrer eigenen Beobachtung handeln als auf der Grundlage der Sammlung von Beweisen, die belegen, dass ein Fehlverhalten stattgefunden hat. Frauen würden sich jedoch seltener direkt mit der Person auseinandersetzen, die für das Fehlverhalten verantwortlich ist, sondern sich viel mehr an den internen oder externen Meldekanal oder an eine dritte Person wenden.[4]
Gesellschaftliche Normen spielen ebenfalls eine bedeutsame Rolle. Gemäss Clare Tilton beschäftigen sich Frauen mehr mit gesellschaftlichen Normen und wären bei ihrer Entscheidung, einen Hinweis zu geben oder nicht, stärker von Reaktionen Verwandter und Bekannter betroffen. Sie würden sich insbesondere die Frage stellen, welches Bild ihnen zugeschrieben wird: Das einer Heldin oder das einer Petze.[5]
Eine weitere Studie aus dem Jahr 2018 zu diesem Thema, allerdings speziell im öffentlichen Sektor, kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass es keinen signifikanten Unterschied zwischen Männern und Frauen bei der Meldung von Betrug gibt. Ausserdem würden Frauen eher von der Möglichkeit Gebrauch machen, anonym zu melden, und nichts melden, wenn diese Möglichkeit nicht zur Verfügung steht. Der Meldekanal (intern und/oder extern) und das Geschlecht spielen keine entscheidende Rolle.[6]
Eine 2020 von Transparency International durchgeführte Untersuchung [7] zu diesem Thema kam zum Ergebnis, dass das Vorhandensein von internen Mechanismen zur anonymen Meldung von Missständen oder das Verbot von Vergeltungsmassnahmen für Frauen bei der Entscheidung, eine Meldung zu machen, eine wesentlich wichtigere Rolle spielte.
Eine aktuellere Studie von Ende 2022 zeigt noch einen weiteren Unterschied zwischen den Geschlechtern bei der Meldung von Missständen, insbesondere im Hinblick auf Vergeltungsmassnahmen. Frauen würden mehr Vergeltungsmassnahmen riskieren als ihre männlichen Kollegen. Die Studie ergab, dass Männer in Machtpositionen in Organisationen weniger wahrscheinlich Repressalien ausgesetzt sind, während Frauen in denselben Positionen in der Regel Repressalien ausgesetzt sind, wenn sie sie einen Missstand melden.[8]
Ein kontextgeprägter Unterschied
Die oben genannten Studien widersprechen sich in ihren Ergebnissen. Es ist jedoch ein Konsens erkennbar, dass diese Unterschiede nicht auf einer geschlechtsspezifischen höheren Moral beruhen, sondern vielmehr auf kontextuellen, demografischen und sozialen Faktoren wie Alter, Bildungsniveau, Einkommen, kulturellen Unterschieden und sogar der Umwelt.
Darüber hinaus sind die Existenz von internen und externen Meldesystemen (Whistleblowing-Kanälen) sowie unternehmensinterne Regeln, die sowohl den Whistleblowing-Prozess als auch seine Behandlung und das Verbot von Vergeltungsmassnahmen abdecken, weitere Faktoren. Sie machen es schwierig, eine endgültige Antwort auf die Frage zu geben, welche Rolle das Geschlecht bei der Entscheidung eine Meldung zu machen spielt.
Doch ob vor oder nach der Meldung, die Überlegungen und Konsequenzen können unterschiedlich ausfallen, wenn es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Wie die Autor*innen der oben genannten Studie aus dem Jahr 2022 schlussfolgerten, werden unabhängig von Geschlecht und struktureller Macht Personen, die ihren moralischen Einwand mit der Absicht äussern, der Organisation und ihren Mitgliedern zu nutzen, als selbstbeherrschter angesehen und sind daher mit einem geringeren Mass an Vergeltungsmassnahmen konfrontiert als ihre Geschlechtsgenoss*innen. Die Motivation des Whistleblowers spielt hier also eine wichtige Rolle. Die Entscheidungen, die eine Person zum Whistleblowing bewegen können, sind sehr vielfältig und es ist in erster Linie Sache des Whistleblowers, sie zu bestimmen.
Jede Person, ob Mann oder Frau, sollte die Möglichkeit haben, eine festgestellte Unregelmässigkeit zu melden. Sei es über den vom Unternehmen zur Verfügung gestellten internen Meldekanal oder über andere externe Kanäle, die zur Beendigung der Unregelmässigkeit führen können. Das Geschlecht sollte nicht zur Meldung oder zum Schweigen führen, denn bei der Meldung von Missständen steht nicht der Mann oder die Frau im Mittelpunkt, sondern die Motivation, eine irreguläre, illegale oder unethische Verhaltensweise zu beenden, in die sich das Unternehmen oder ein*e Mitarbeiter*in verwickelt hat. Die Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Whistleblowing bedeutet auch, dass die Geschlechter in allen Bereichen gleich behandelt werden.
[1] Pattie Sellers. Status am 23.01.2023
[2] Der Artikel zu diesem Thema von fortune.com und auch constationecannon.com. Status am 23.01.2023
[3] Clare Tilton, WOMEN AND WHISTLEBLOWING: EXPLORING GENDER EFFECTS IN POLICY DESIGN in : Columbia Journal of Gender and law, 2018, S. 354.
[4] Orly Lobel, Linking Prevention, Detection, and Whistleblowing: Principles for Designing Effective Reporting Systems, 2012, S. 54.
[5] Siehe Notiz 3, S. 359.
[6] Dian Fitria Handayani et Nayang Helmayunita, Women and Whistle-Blowing: Gender in Reporting Channel and Moral Reasoning to Report the Fraud in Procurement Processes in The Government Sector in : Advances in Economics, Business and Management Research (AEBMR), volume 92, 2018, S. 398.
[7] TI, Nieves Zúñiga – Gender sensitivity in corruption reporting and whistleblowing, 2020, S. 3.
[8] Academy of Management, Timothy G. Kundro and Nancy P. Rothbard, Does Power Protect Female Moral Objectors? How and When Moral Objectors’ Gender, Power, and Use of Organizational Frames Influence Perceived Self-Control and Experienced Retaliation, 2022