Aus Brian wurde „Carlos“ und wieder Brian
Ich sitze am Esstisch und schaue auf meinen Computer. Wie jeden Morgen scanne ich die News-Seiten nach Berichten, die für unsere Arbeit bei Campax von Bedeutung sein könnten. Keine 5 min und ich stosse auf den Watson Artikel (1) über Brian. Er soll wohl bald aus dem Gefängnis entlassen werden. Irgendwie füllt sich mein Körper mit Erleichterung und Freude. Ich lese weiter: Es drohe die Gefahr einer Überhaft. Die Strafe, die Brian wegen den Vorwürfen zwischen 2017 und 2018 voraussichtlich erhalten werde, könnte durch die jahrelange Untersuchungs- und Sicherheitshaft bereits verbüsst sein. Was für eine Odyssee.

Im Mai 2021 sass ich zusammen mit einer Gruppe Aktivist*innen und Künstler*innen als Prozessbeobachterin am Obergericht Zürich. Ich war angefragt worden, ob ich nicht als POC im Saal sein möchte, um Brian moralisch zu unterstützen. Ich musste nicht lange überlegen und schloss mich gleich an. Ich versuche, mich an den Tag zurückzuerinnern:
Prozessbeobachtung am Obergericht – alle sind da, ausser Brian
Es ist 10 vor 8 Uhr. Ich stehe vor dem Obergericht in Zürich. Davor eine Menschenversammlung, hauptsächlich Journalist*innen, Anwält*innen und eine Gruppe von Prozessbeobachter*innen. Es haben sich viele Menschen angemeldet und aufgrund der Corona-Massnahmen wird die Verhandlung in einem zweiten Saal übertragen.
Kurz nach 8 geht es los. Schnell wird kommuniziert, dass Brian nicht an der Verhandlung teilnehmen wird. Er fühle sich aufgrund der langjährigen Haftbedingungen nicht in der Lage, am Prozess teilzunehmen. Das Gericht macht klar, dass er ein Verweigerungsrecht hat und nicht zur Teilnahme gezwungen werden kann. Schon fühle ich mich nicht mehr so schlecht, dass ich nicht im Hauptsaal sitzen kann.
Die Verhandlung dauert den ganzen Tag. Irgendwann nach 17.00 Uhr mache ich mich auf den Weg nach Hause. Ich bin fix und fertig und da Brian ohnehin nicht da ist und wir nur im Übertragungssaal sitzen, ist mein moralischer Support nicht mehr so wichtig.
Foltervorwürfe – Swiss Quality Folter
Das Anwaltstrio, welches Brian verteidigte, warf dem Staat Folter vor. Brian war zu dieser Zeit seit über 900 Tagen in Isolationshaft, ohne jeglichen Kontakt zu anderen Insassen. Über längere Zeit hatte er wiederholt 24 Stunden lang keine Möglichkeit, nach draussen zu gehen. Dies sei unmenschlich und grausam. Die Anwält*innen forderten eine Haftentlassung. Zu einer vollständigen Freilassung kam es nicht. Das Obergericht winkte die Forderung ab. Die Isolationshaft sei laut dem Staatsanwalt verhältnismässig.
Brians Fall beschäftigt mich seitdem immer wieder. Auch die UNO verurteilte die Schweiz im Fall Brian. Die lange Isolationshaft wurde als Folter eingestuft. Mit 26 Jahren sass Biran mehr als zehn davon in Haft und lebte mehr als 3 Jahre in Isolationshaft. (2)
Für mich wurde es zu einem Paradox, dass Brian durch die Presse seine Persönlichkeitsrechte verlor und zum Monster namens Carlos gemacht wurde; und es nun zu unserer Aufgabe geworden war, ihn in der Presse zu behalten, damit er nicht vergessen wurde und wieder zum Mensch gemacht werden konnte. Denn Brian ist nicht Carlos, sondern Brian. Ein junger Mann, der sicherlich Fehler gemacht hat, aber durch die Presse so zu einem Monster gemacht wurde, dass es für viele und auch für die Justiz schon fast nicht mehr möglich war, ihn als Menschen zu erkennen.
Das Kollektiv #BigDreams
Seine Menschlichkeit in den Vordergrund zu rücken, hat sich das Kollektiv #BigDreams zur Aufgabe gemacht. Sie versuchen Brian auf unterschiedliche Weise eine Stimme zu geben und haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Misstände, die Brian in der Isolationshaft erlebt, öffentlich zu verhandeln. Dazu gehören z.B. der Critical Newsticker, mit dem sie die Berichterstattung über Brian’s Prozess mit einem intersektionalen Blick anschauen.
Für mich ist klar: Brian war viel zu lange in Isolationshaft. Nur dank dem Einsatz von vielen unterschiedlichen Menschen haben wir ihn nicht vergessen.